Kaffee mit Kondensmilch

Hanoi, Vietnam

Sie wimmeln durch die engen Strassen wie Ameisen durch die Gänge in ihrem Haufen. Doch statt dem Futter für die Königin tragen sie ergonomisch geformte Rucksäcke und Kameras in allen Grössen. Klick, klick. Kein Sujet verpassen. Ein Moment, der nicht festgehalten wird, hat nie stattgefunden. 

Eine Dame mit weissgelocktem Haar und Brillenkette stösst einen quietschenden Schrei aus, als die Motorradfahrer wenige Zentimeter neben ihr vorbeibrausen. Ein Laut, der keiner hört, übertönt von dem schrillen Hupen, das sich wie ein fieser Stachel in die Schläfe bohrt. Eine Kakerlake liegt auf dem Rücken, strampelt mit den Beinchen in der Luft. Ein vergeblicher Versuch. Hilflos muss sie zusehen, wie sich eine dicke, schwarze Sohle sich ihrem Körper nähert und sie schliesslich komplett verdeckt. Der Mann, ein Vietnamese mit grünem Helm, zu dem die Sohle gehört, geht weiter. Den Mord hat er nicht bemerkt. Die Kakerlake ist verschwunden, vermutlich im Profil hängen geblieben.

Grausame Natur, denke ich und nehme einen Schluck Kaffee. Bitter und süss, es kräuselt auf meiner Zunge und mischt sich mit dem Geschmack der Zigarette. Golden Virgina. Es lohnt sich hier kaum, zu drehen, die Zigaretten sind billiger als der Kaffee. Ich mache es trotzdem. So kann ich stundenlang am Filter nuckeln, zusehen und den Glimmstängel zum hundertsten Mal anzünden.

Das Treiben verschluckt nicht nur den Schrei der Seniorin, sondern auch meine ganze Existenz. Unsichtbar bin ich geworden, eine Maus, die versteckt in ihrem Loch kauert und mit weit aufgerissenen Augen die fremde Welt beobachtet.