Kinderlogik und Alien-Hirn

Mit dem Ellenbogen öffnete Nicole die Tür. Sie hatte die Brille auf das Haar geschoben, doch vergeblich versuchte das Plastikgestell, die wilden Locken zusammenzuhalten. Unter ihrem linken Arm klemmte Mateos Lieblingsjeans, mit der anderen Hand zog sie den Staubsauger hinter sich her. Den ganzen Morgen hatte sie vertrödelt, indem sie diese doofe Hose das gefühlt hundertste Mal geflickt hatte. Mateo war es egal, dass sie die Löcher in den Löchern zusammennähte – Hauptsache er durfte die geliebte Jeans anziehen. 

Nicole steckte das Kabel des Staubsaugers in die Steckdose und strich ihre Haare hinter die Ohren. Arbeit wartete. Ihr Sohn hatte Konfetti entdeckt und entschieden, in seinem Schlafzimmer eine Grossproduktion mit buntem Papier und Mamas Locher zu starten. Das Resultat lag nun auf dem Boden.

Schrill dröhnte das Geheule des Staubsaugers durch die Morgenstille. Nicole schrubbte den Boden, als wäre er für die Löcher in der Hose verantwortlich. Das halbe Zimmer war bereits geputzt, da realisierte sie, dass die Jeans noch immer unter ihrem Oberarm klemmte. Sie warf sie wie ein Frisbee auf Mateos Schreibtisch. Die fliegende Hose schlitterte und fegte einen Stapel Blätter von der Platte. Nicole bückte sich, die letzten braunen Strähnen lösten sich von den Ohren und fielen ihr wie ein schwerer Vorhang ins Gesicht. Die Brille knallte auf den Boden.

Eine schwarze Erde, übersät von orangen, roten und gelben Strichen, die in Mateos Zeichnungen für Flammen standen. Von der Oberseite der Kugel wuchs eine Rauchsäule zum Himmel. Obwohl es nicht mehr als eine kindliche Kritzelei war, so strahlte die Zeichnung eine erschreckende Verzweiflung aus. Das nächste Bild war mindestens so dunkel. Grabstein an Grabstein, eine tote Biene dazwischen und grauer Nebel im Hintergrund.

Was war mit Mateo los? War ihrem Jungen etwas zugestossen? Und sie, sie hatte es nicht bemerkt? 

Ein Kloss wuchs in Nicoles Hals, bis er auf die Tränendrüse drückte und erst ein kräftiger Schluck ihn zur Stille zwang. Seit dem Moment von Mateos Geburt gehörten Sorgen zu ihrem Alltag. Nur schon die Möglichkeit, dass dem Jungen etwas zustossen oder er leiden könnte, ängstigte sie. Hätte ihr das jemand gesagt, bevor er auf die Welt gekommen war, hätte sie ihn ausgelacht. Niemals war sie, unabhängige Frau, eine solche Mutter. Doch die Hormone hatten einen anderen Plan mit ihr.

Nicole setzte sich auf sein Bett und starrte weiter auf die Blätter in Ihrer Hand. Ohne sich umzudrehen, griff sie nach Mateos Kuschelkissen, mit der Stoffecke streichelte sie sich über den Nasenrücken. Die Berührung und der Geruch ihres Sohnes beruhigten sie. Heute beim Mittagessen würde sie mit Mateo reden.

Die Gedanken blieben, während sie Wasser aufsetzte. Erst als Nicole hörte, wie ihr Sohn die Klinke der Haustür nach unten drückte, löste sich einen Teil ihrer Anspannung.

Mateos Haar war zerzaust. Egal, wie fest sie bettelte,  ihr Sohn mied den Coiffeur. Er trug die Jacke über der Schulter, als wäre er der Herr des Hauses, der nach einem schweren Arbeitstag heimkehrte.

„Hallo Süsser, wie war die Schule?“

„Normal.“

Mateo setzte sich auf den Boden, um die Turnschuhe von den Füssen zu streifen. Die Zunge klemmte zwischen den Lippen, als er an der Ferse riss. Mit verschränkten Armen stand Nicole daneben. 

„Willst du nicht zuerst die Schnürsenkel lösen?“

Hastig schüttelte er den Kopf. In dem Moment löste sich der Schuh vom Fuss, Mateo kippte gegen hinten und schlug mit dem Hinterkopf auf den Steinboden. 

„Ich glaube, anders wäre es einfacher gewesen.“

Das Braun in Mateos Augen schimmerte fast schon schwarz. 

„Lass mich in Ruhe.“

„Setz dich an den Tisch, es gibt Spaghetti.“

Mateo sagte nichts mehr. Er trottete ihr hinterher, kletterte auf den Stuhl und schob den Teller zum Topf. Spaghetti war sein Lieblingsessen, in seinem Sprachgebrauch hiess das Gericht Alien-Hirn. Er liebte es, die langen Fäden in der roten Sauce zu baden, um sich dann mit verzerrtem Gesicht darauf zu stürzen, als wäre er ein Weltraum-Krieger, der sich am Fleisch seiner Gegner labte. Das Kind hatte eine Fantasie, da wurde Nicole beinahe übel.

Heute stocherte Mateo in den Nudeln und schob sie von der linken Seite des Tellers auf die rechte. 

„Kannst du bitte normal essen?“

Mateo fixierte seine Mutter mit den Augen und zog ein Spaghetti durch die Lippen, sodass die Tomatensauce bis zu seinen weichen Ohrläppchen spritzte. Normalerweise kam Mateo voller Energie von der Schule nachhause. Dann erzählte er von den Streitereien auf dem Schulhof, der schweren Rechnung, die er gelöst hatte oder vom Kissen aus dem Handarbeitsunterricht. 

„Was ist dir denn über die Leber gekrochen?“

„Nichts.“

Nicole atmete tief ein, als bräuchte sie für das kommende Gespräch jedes verfügbare Molekül an Sauerstoff. 

„Ich habe deine Zeichnungen gesehen.“

Statt eine Antwort zu geben, schlängelte er die Nudeln ineinander und baute ein Nest für den Fleischball in der Mitte. Nicole schaute ihm eine Weile zu, die Hände auf den Oberschenkeln verschränkt.

„Wieso malst du Grabsteine? Und wieso brennt die Erde?“

Wie eine staubige Wolldecke lag eine Stille in der Küche.

„Bitte, ich mache mir Sorgen.“

 Mateo warf die Gabel in seinen halbvollen Teller, sodass die Tomatensauce das verschmierte Gesicht mit zusätzlichen roten Punkten übersäte. 

„Das macht alles keinen Sinn. Wir sterben sowieso!“ Er schubste den Stuhl um, rannte aus der Küche und hinterliess seine Mutter in einem Chaos. Nicole legte ihre Unterarme auf den Tisch und vergrub das Gesicht darin. Die Gefühle in ihr waren derart widersprüchlich, wie nur die einer Mutter sein können. Sie wollte Mateo mit direkter Luftpost auf den Mond schicken, sie wollte ihn kuscheln, sagen, dass alles gut kommt und ihn gleichzeitig anschreien, dass er sich anständig benehmen sollte. 

Wieso hatte ihr Neunjähriger Angst vor dem Tod? Mit roboterhaften Bewegungen räumte Nicole den Tisch ab. Weder sie noch Mateo hatten mehr als drei Bissen gegessen. Mittlerweile war sie sich sicher, dass mit ihrem Sohn etwas Grauenhaftes passiert sein musste. So wie diese Woche verhielt er sich nie. Mateo war ruhig, ausgeglichen und fröhlich. Als Baby hatte er kaum geschrien, als hätte er gespürt, dass er seine alleinerziehende Mutter unterstützen musste. 

Während die Sorgen in ihrem Kopf lustig Ringelreihe tanzten, nahm Nicole durchs Fenster einen Schatten wahr. Mateo stand in der Wiese vor dem Küchenfenster. Seine Finger klammerten sich an einen Pinsel, als wäre er ein letzter Rettungsanker. Nicole verdrehte die Augen, als sie sah, wie Mateo mit der sauberen Hose auf das Gras kniete. Es war April und wie immer im April regnete es fast täglich, was die Wiese in eine sumpfige Landschaft verwandelte. 

Mateo rutschte von Blüte zu Blüte und tauchte den Pinsel in die kaum geöffneten Kelche hinein. Die Kapuze des Pullovers hing ihm in die Augen.

Nicole hatte die schmutzige Hose längst vergessen. Sie seufzte. Tief. Mit einem angedeuteten Kopfschütteln öffnete sie die Haustür.

„Liebling. Was tust du da?“

„Ich bestäube die Blumen.“

„Was?“

Erst jetzt löste Mateo seinen Blick von der gelbleuchtenden Osterglocke. In seinen Augen lag eine Ernsthaftigkeit, die nichts in den Augen eines Achtjährigen verloren hatte. 

„Mami, wir sterben sonst, weil wir nichts mehr zu essen haben.“

Die Wut auf ihren Sohn verrauchte. Eine Welle von Mutterliebe überschwemmte Nicole.

„Komm Mateo, ich mache dir einen Orangenpunsch. Dann erzählst du mir, wieso wir nichts mehr zu essen haben.“

Schlaff lag die weiche Kinderhand in der ihren. Mateo protestierte nicht, als sie ihn hinter sich herzog und auf die Polster der Couch setzte. Wenig später kehrte sie mit zwei dampfenden Tassen zurück.

„Was ist los, mein Süsser?“

Mateo knetete seine Finger. Als er zu ihr aufsah, bemerkte Nicole die wässrigen Augen. Da konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und sie drückte ihren Sohn so fest an sich, dass er kaum mehr atmen konnte. Sie vergrub ihre Nase in seinen Haaren, es war so weich wie das Fell eines Baby-Alpacas. Doch Mateo schüttelte sich, bis er wieder Platz zum Sprechen hatte.

„Weisst du, Frau Siegenthaler hat erzählt, dass die Bienen sterben. Sie hat gesagt, dass es 17 Prozent weniger gibt. Und dann bestäubt niemand mehr unsere Pflanzen, dann können die Pflanzen nicht mehr wachsen und machen kein Essen. Und deshalb sterben wir.“

Frau Siegenthaler war Mateos Lehrerin – in seinen Augen war sie viel mehr ein wandelndes Lexikon, das alles wusste und nie falsch lag.

„Ach, Liebling. Weisst du denn, was minus 17 Prozent bedeutet?“

Mateo schüttelte den Kopf, seine Mundwinkel zitterten. „Aber 17 ist so viel. Wenn ich nämlich 17 Jahre alt werde, bin ich schon fast erwachsen.“

Nicole verkniff sich ein Grinsen, Kinderlogik war unbestechlich. Und jetzt musste sie ihm mit Erwachsenenlogik die Angst nehmen. Wie aber erklärt man einem Kind, dass der langjährige Einsatz von aggressiven Insektiziden, der Befall der Varroamilbe, Mobilfunkstrahlung und transgene Pflanzen Schuld daran seien? 

Nicole erzählte Mateo von den Fabriken, die früher gebaut wurden, wie die Menschheit immer mehr Abgase in die Luft liessen und Gifte auf die Pflanzen spritzten, damit sie auch möglichst viel Ertrag gaben. 

Mateos aufgerissenen Augen und der halbgeöffnete Mund machten ihr Mut. „Heute weiss man, dass das nicht gut ist, und wir können etwas dagegen tun, damit es nicht nur den Bienen, sondern dem ganzen Planeten besser geht.“

„Was kann ich denn tun?“ Wie der Kleine da sass, mit den hochgekrempelten Armen, als wäre er bereit loszulaufen und die Welt im Alleingang zu retten.

„Es gibt viele Forscher und die versuchen Geräte zu erfinden, die die Luft sauber machen und den Abfall verschwinden lassen.“

Das Leuchten in seinen Augen verglimmte. Schnell streichelte Nicole über seine Wange. „Das ist doch etwas Gutes! Dann haben die Bienen wieder viel mehr Lust zu bestäuben. Du willst ja auch nicht zwischen alten Dosen und leeren Plastikpackungen essen, oder?“

„Nein, ich möchte auch etwas machen für die Natur, ich will auch ein Forscher sein.“

Was hatte sie doch für ein gutes Kind. So klug wie Mateo war, baute er bestimmt eines Tages eine weltverändernde Maschine. Aber für den Moment lag ein mögliches Umweltingenieur-Studium noch in Ferne. 

„Ich habe eine Idee. Komm, wir machen am nächsten Samstag einen Tag für die Natur. Wir laden deine Freunde ein und gehen zusammen in den Wald, um Abfall zu sammeln. Dann machen wir am Schluss ein grosses Feuer und kochen Schokoladenbananen in der Glut. Was meinst du?“

Mateo nickte heftig. Er umarmte seine Mutter und hüpfte aus dem Zimmer.

„Was machst du?“, schrie Nicole ihm hinterher.

„Ich muss Einladungen basteln!“ 

Mateo drehte sich um. Er kräuselte seine Nase und grinste.

Veröffentlicht von salome-kern

Storytellerin mit Fernweh

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