Eine seltsame Begegnung schenkt Hoffnung.
Glitzernder Frost lag auf den vertrockneten Blättern der Bäume. Er umrahmte die Stadt mit kunstvollen Eiskristallen, als könnte er durch ihre Einzigartigkeit über die winterliche Tristesse hinwegtäuschen. Die Passanten hatten sich in Schals, so dick wie Teppiche eingewickelt, versteckten die Hände in den flauschigen Manteltaschen und hasteten mit gesenktem Blick durch die grauen Strassen.
Bruno schnaubte und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, gar beissend war der Wind an den ungeschützten Ohrläppchen. Das Tram stoppte vor seinen Füssen und eine Masse an dicken Winterjacken, überdimensionierten Ohrenwärmern und Stiefeln, die eigentlich für Bergwanderungen gedacht waren, ergoss sich an der Haltestelle. Bruno bewegte sich nicht von der Stelle, sondern starrte jeden, der es wagte, an seine Schulter zu prallen, grimmig an.
Auf der Bank neben ihm hatte sich ein Bettler eingerichtet. Plastikblumen in allen Farben und ein kleiner Steinelefant, in dessen Rücken ein Räucherstäbchen qualmte und ein fernöstlicher Geruch an der Haltestelle verteilte, rahmten das Reich ein. Auf seinen Lippen lag ein entspanntes Lächeln.
Bruno schnaubte erneut. Als würden die billigen Pflanzen mit schäbigen Blüten aus Plastik des vergangenen Jahrhunderts etwas an der einsamen Armut ändern.
Der Tramfahrer warf einen Kontrollblick in den Spiegel und verriegelte die Türen. Mit einem Ächzen setzte sich das Tram in Bewegung, rollte in den vorhergesehenen Schienen über die Kreuzung, bis das rote Feld mit der weissen Zwei hinter dem alten Gebäude verschwand. Das wäre seine Linie gewesen, aber wie so oft hatte sich Bruno nicht richtig gefühlt, um einzusteigen.
Wieso denn auch?
Er würde drei Stationen fahren, beim Lochergut aussteigen, der schmalen Seitengasse folgen, nur um dann die grüne Tür, deren Farbe an den Ecken abblätterte, aufzustossen. Dort empfing ihn ein finsterer Raum, von dessen Decke eine Glühbirne baumelte, die er schon längst mit einem Lampenschirm hatte verschönern wollen, doch bisher hatte er die Motivation nicht aufgebracht, um tatsächlich in ein Möbelhaus zu fahren. Ihn störte die nackte Birne schliesslich nicht und Besuch kam sowieso nie. Natürlich könnte er den Fernseher einschalten und den Raum mit Gelächter, Farben und Stimmen füllen, die ihn glauben liessen, er sei ein Teil von irgendetwas, aber dann belog er sich so, wie es der Bettler mit dem Blumengedöns tat.
28 Zigarettenstummel in dem Spalt zwischen Strasse und Trottoir hatte Bruno gezählt. „Dumme Menschen“, dachte er und zupfte an der Mütze, bis sie die Hälfte der gefurchten Stirn überdeckte. Aus seinen buschigen Augenbrauen wuchsen einzelne weisse Borsten, die sich nicht an eine durchschnittliche Länge, wie sie für Augenbrauen vorgesehen war, halten wollten.
Eine junge Geschäftsfrau klappte einen Taschenspiegel auf und hielt ihn vor ihr Gesicht, kniff die Augen zusammen, um ein schwarzes Körnchen von der Wimper zu wischen. Sie zog einen metallisch glänzenden Lippenstift aus ihrer winzigen braunen Handtasche und zog die Lippen mit der knallroten, lackartigen Farbe nach.
Bruno schnaubte. Junge Dinger glaubten, Schönheit sei alles und dann wachten sie eines Tages auf, der Busen hing und die Lippen hatten die Spannkraft verloren. Nichts blieb ausser vergilbten Fotos ihres jugendlichen Selbst. Und trotzdem waren sie noch immer überzeugt, dass Grosses vor ihnen lag und liefen weg, um ihre Falten zu vergessen.
Vielleicht hatte der Bettler ja doch Recht mit seinen Blumen: Sie veränderten sich immerhin nicht. Bruno lachte grunzend auf, die junge Frau zuckte zusammen, rutschte ab und zog einen dicken, roten Striemen von der oberen Lippe bis über die Wange.
Ihre Blicke trafen sich im Taschenspiegel. Bruno verzog das Gesicht zu einem schrägen Grinsen, sie sah aus wie ein Mädchen, das zum ersten Mal mit der Schminke ihrer Mutter hantiert hatte.
„Das findest du lustig, ja? Armseliger alter Mann! Lach doch über dein trauriges Leben“, fauchte die Frau, ihre smaragdgrünen Augen funkelten. Je mehr sie rubbelte und schimpfte, desto röter wurde ihre Wange.
Die Taube, die eben noch friedlich am Boden gepickt hatte, schreckte auf und flog gehetzt zu den Artgenossen, um nebenan das steinerne Dach der Kirche vollzuscheissen.
Bruno stellte sich vor, wie die Frau auf ihren hochhackigen Lederstiefeln heimstolzierte, die Lippen vor Empörung geschürzt. Das Handtäschchen baumelte von ihren Schultern im Takt mit den energischen Schritten. Beim Brunch am nächsten Sonntag, wo sie den dünnen Beinen nach maximal einen Orangensaft trank, erzählte sie ihren Freundinnen von diesem Alten beim Stauffacher. Er hätte sie erschreckt, ja vermutlich hatte er ihr sogar aufgelauert, nur um sich dann über den verschmierten Lippenstift lustig zu machen. Eine bedauerliche Figur wäre er gewesen, übergewichtig und runzlig.
„So unrecht hätte sie nicht einmal“, dachte Bruno und liess sich auf die Bank fallen, kalt drückten die Holzlatten gegen die Oberschenkel.
Tram 3 fuhr ein und ein eisiger Windstoss zupfte an seinen unordentlichen Barthaaren. Er starrte auf die Schuhspitzen, wo die erdige Erinnerung an den letzten Spaziergang auf dem Käferberg klebte. Wie eine Rauchwolke breitete sich sein Atem in der Winterluft aus. Bruno beobachtete die dunstigen Kringel in der Luft, verrenkte den Kiefer und versuchte Ringe aus seinem Atem zu formen.
„Wäre lustig, wenn wir Feuer spucken könnten“, sagte der Bettler, der etwa zwei Armlängen entfernt inmitten seiner Dekoration sass.
„Was?“ Bruno hob den Kopf.
„So wie Drachen“, sagte der Bettler.
„Ach ja, das wäre wirklich lustig.“
Das Tram 9 bog ein und die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Ein Mann mit Krawatte und schwarzglänzender Tasche sprang heraus. Vor dem Plastikblumenreich blieb er stehen, verbeugte sich kurz und warf einen Fünfliber auf das Kissen.
„Namaste“, hauchte der Mann, dessen verschmitztes Lächeln nicht so richtig zu den seriösen Kleidern passen wollte, mit einer zu piepsigen Stimme, die ebenfalls nicht zum Rest passte. Der Bettler legte die Handflächen aufeinander, direkt auf der Höhe des Herzens und senkte seinen Kopf mit einem Lächeln, das irgendwo zwischen entrückt und wahnsinnig anzusiedeln war.
Kaum war der Anzugträger verschwunden, vom Coop verschluckt und auf der Rolltreppe in den Schlund herunter, wandte sich der Bettler zu Bruno zurück.
„Der war mal in Indien. Selbstfindung oder so. Jetzt glaubt er, wir seien Freunde.“ Er wackelte mit dem Kopf.
Aus den Augenwinkeln linste Bruno zum Bettler, der ebenfalls zu glauben schien, sie wären Freunde, nur weil sie gerade nebeneinandersassen.
„Aber da darf ich nichts dagegen sagen. Ohne die, die mich als Kurztrip nach Indien, inklusive tiefen Erkenntnissen und der ultimativen Erleuchtung sehen, könnte ich wohl gar nicht überleben.“ Der Bettler lachte schallend und die dunklen Augen sprühten vor spitzbübischem Schalk.
„Hm“, antwortete Bruno.
„Du warst nie in Indien, häh?“
Bruno schüttelte den Kopf. Nach Indien wollte er auch nicht, aber er könnte beim Lochergut für das Abendessen einkaufen. Fischstäbchen vielleicht, Mayonnaise sollte er vorrätig haben, oder Spaghetti und eine Sauce bolognese aus dem Glas stand sicher noch zu Hause. Doch er hatte Lust auf einen kurzen Schwatz mit der Kassiererin, obwohl sich der zugegebenermassen auf „Grüezi“ und „Haben Sie eine Supercard?“ beschränkte.
„Indien ist okay, aber hier ist es auch okay, nicht wahr?“ Der Bettler kratzte seine Nase, die mit feinen, roten Adern gezeichnet war.
„Vermutlich ja“, antwortete Bruno, da knurrte sein Magen grollend vor Verzweiflung, als hätte er nicht vor einigen Stunden ein spätes Frühstück mit Zopf, Salami, Spiegelei und einer Kanne Filterkaffee erhalten.
„Länger nichts mehr gegessen, häh?“ Der Inder durchwühlte die Tasche neben sich, die unter Plastikblumen ertrank. Ein Plastiksack kam zum Vorschein, in dem ein zweiter Plastiksack steckte. Der Bettler zog einen labbrigen brotähnlichen Fladen heraus und schaukelte ihn wie eine Friedensfahne im Wind.
„Aloo Paratha, selbstgemacht.“
„Passt schon, ich esse nachher“, sagte Bruno, als der Bettler trotz der abwehrenden Geste das Brot weiter schwenkte.
„Glaub mir, das schmeckt. Und wärmen tut es auch. Ist ein Rezept meiner Grossmutter aus dem hohen Norden von Indien. Sie hat mir Schritt für Schritt beigebracht, wie ich den Ingwer mörsere, mit Kümmel mische und im heissen Öl zum Duften bringe.“ Er riss eine Ecke ab, schob sie sich in den Mund, als müsse er beweisen, dass kein Rattengift darin steckte.
Bruno rutschte auf der Bank hin und her. Hätte er nur an die Handschuhe gedacht, seine Finger waren steif. Die Passagiere, die auf das nächste Tram warteten, warfen ihnen schon schräge Blicke zu – wohl im Glauben er mache komische Geschäfte mit dem Bettler.
Schnell griff Bruno nach dem Fladen und stopfte sich das ganze Brot in den Mund, die Kruste ragte noch halb heraus, während die Backenzähne kraftvoll mahlten. Es verwandelte sich in einen zähen Klumpen und klebte fest zwischen den Zahnreihen. Bruno hustete, doch das Brot bewegte sich nicht, er schnappte nach Luft. Nun hatte sich auch der letzte Passagier umgedreht, um zu beobachten, wie Bruno einen verzweifelten Kampf gegen den Erstickungstod führte, da haute ihm der Bettler mit seiner Pranke auf den Rücken. Der Klumpen spickte nach vorne, wo Bruno ihn schon fast elegant mit den Schneidezähnen auffing und dem Publikum einen vorgekauten Teig präsentierte.
Ein Tram fuhr ein, hastig flüchteten alle vor dem seltsamen Bettlerpaar in die wohlige Wärme. Bruno kaute und schluckte, kaute wieder und schluckte noch einmal, dann räusperte er sich.
„Danke.“
„Kein Ding.“
„Schmeckt wirklich gut, das Brot deiner Grossmutter.“
Der Bettler hielt ihm eine Plastikflasche hin, deren Etikett womöglich längst die Limmat hinunter Richtung Meer trieb, eine trübdurchsichtige Flüssigkeit schwappte gegen das Plastik.
Es erschien ihm unanständig, den Bettler erneut abzuweisen, und vielleicht war dieses Wasser ja auch ein altes indisches Rezept. Also setzte er den Flaschenhals an und trank in grossen Schlucken.
Es schmeckte abgestanden.
„Regenwasser, frisch aus Zürich“, sagte der Bettler in einem Tonfall, als präsentierte er das exklusivste Menü aus der Sterneküche.
Die beiden Männer sassen schweigend nebeneinander, der Bettler hatte die Hände in den Schoss gelegt und Bruno spielte mit der Wasserflasche. Ausser mit der Kassiererin oder der Kioskfrau hatte er schon länger nicht mehr geredet. Ein echtes Gespräch, das fehlte ihm, seit sie gegangen war. Er kniff die Augen zusammen und die grossporige Haut faltete sich zu einer tiefen Schlucht zwischen den Brauen.
Sie hatte nichts in seinen Gedanken verloren. Sie hätte den Bettler gehasst, sie hatte jeden gehasst, der nicht für sein Leben arbeitete. Ausser sich selbst, aber sie war sowieso immer eine Ausnahme.
„Ach, Gott verdammt!“, schrie Bruno auf. Er presste die Finger zusammen, ohne an die Flasche in seiner Hand zu denken, die unter dem Druck knisternd nachgab. Das Wasser spritzte hoch und klatschte auf Brunos Oberschenkel. Er starrte auf den nassen Fleck.
Der Bettler lachte auf.
„Warum macht dich das Wasser wütend?“
„Ich habe an meine Ex-Frau gedacht“, antwortete Bruno. Die Kälte hatte nun ein leichtes Spiel, wie ein Kühlpflaster klebte die nasse Jeans an der Haut.
„Oh. Nicht gut?“
„Nein.“
„Dann solltest du nicht an sie denken.“
Bruno schaute den Bettler an, direkt in die braunen Augen, die so ehrlich in die Welt zu blicken schienen.
„Du hast wohl Recht.“
„Ich habe immer Recht. Deshalb bin ich Bettler geworden, so habe ich die Zeit, um den Seelen mit ihren Knorzen zu helfen.“
„Wirklich?“ Bruno lächelte.
„Vermutlich, wer weiss das schon?“
Bruno zuckte mit den Schultern.
Eine Kindergartenklasse hüpfte auf die Plattform, jedes versuchte, der Lauteste zu sein. Ein Mädchen mit Zöpfen, die wild vom Kopf abstanden, riss am orangeleuchtenden Bändel eines blonden Jungen, dessen Unterlippe verdächtig zitterte. Mit viel Gezeter trennte eine Begleiterin die Streithähne.
Vielsagend verdrehte der Bettler die Augen, da stand Bruno ruckartig auf.
„Magst du zum Abendessen kommen? Ich glaube, ich habe noch Bolognese zu Hause.“